Katja Kipping, Vorsitzende der Linken, über Mindestlohn, höhere Renten, Wahlchancen und Möglichkeiten, den Syrien-Konflikt auf diplomatischem Weg beenden zu können.

Hamburg. Seit 15 Monaten steht Katja Kipping zusammen mit Bernd Riexinger an der Spitze der Linken. Sie glaubt, dass ihre Partei auch ohne Regierungsbeteiligung im Bund politisch viel bewegen kann.

Hamburger Abendblatt: Frau Kipping, Sie haben in den Umfragen jetzt die Grünen überholt, sind damit drittstärkste Kraft. Zufrieden?

Katja Kipping: Vor einem Monat habe ich gedacht, wir haben bei acht Prozent eine gläserne Decke. Eine Partei links von der Sozialdemokratie stabil bei acht Prozent zu halten wäre schon super. Die jetzigen Umfragen geben natürlich tollen Rückenwind für den Endspurt im Wahlkampf.

Nur wenn niemand mit Ihnen zusammenarbeiten will, haben Sie nichts davon.

Kipping: Unser Ziel ist es jetzt, zweistellig zu werden. Wenn wir die Zehn schaffen, ist Schwarz-Gelb abgewählt. Das wäre ja schon mal ein Erfolg. Die Linke hat ja viel bewirkt und die Politik verändert. Wir haben dafür gesorgt, dass andere Parteien sozialpolitische Themen wieder auf ihre Tagesordnung – wie das Beispiel Mindestlohn zeigt – gesetzt haben, die vorher sozial nicht einmal mehr buchstabieren konnten. Wir bewirken politisch etwas, egal, ob wir in der Opposition oder in der Regierung sind. Irritierend finde ich dagegen, dass die SPD die jetzt aufkommende Wechselstimmung durch Spekulationen über eine große Koalition abwürgt. Das ist völlig unnötig und demobilisiert die Wechselwähler.

Wollen Sie überhaupt mitregieren oder fühlen Sie sich in der Opposition wohler?

Kipping: Wir wollen die Gesellschaft verändern. Egal in welcher Konstellation, egal wer mit wem verhandelt oder ob in der Opposition: Wir werden auf jeden Fall Druck machen für die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, für einen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn, dafür, dass Leiharbeiter nach französischem Modell gleich bezahlt werden wie die Stammbelegschaft und eine Flexibilitätszulage von zehn Prozent kriegen. Wir werden auch bei kleinen Projekten wie einem Heizkostenzuschuss beim Wohngeld Druck machen. Die Heizkosten steigen von Jahr zu Jahr, und Schwarz-Gelb hat den Heizkostenzuschuss abgeschafft. Das ist eine Forderung, mit dem wir das Parlament in den ersten Monaten der neuen Legislaturperiode konfrontieren werden.

Das ist zwar 100 Prozent sozial, wie Sie das nennen, kostet aber auch eine Menge Geld. Wie soll das finanziert werden?

Kipping: Was bis jetzt Geld kostet, ist vor allem der von Schwarz-Gelb betriebene Verzicht auf einen Mindestlohn. Wir wissen jetzt, dass wir seit 2007 etwa 53 Milliarden Euro Steuergelder ausgeben mussten, um Niedriglöhne mit Sozialleistungen aufzustocken. Das können wir uns nicht mehr leisten. Das hier gesparte Geld könnten wir verwenden für die Finanzierung eines besseren Rentensystems, das vor Armut schützt oder für einen Heizkostenzuschuss.

Dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten könnten, fürchten Sie nicht?

Kipping: In vielen europäischen Ländern gibt es Mindestlöhne, darunter Länder mit wirklich guten Mindestlöhnen wie Frankreich oder Luxemburg. Dort ist es durch die Praxis bewiesen, dass Arbeitsplätze mitnichten durch Mindestlöhne wegfallen.

Aber Frankreich hat große Probleme, gerade auf dem Arbeitsmarkt.

Kipping: Das liegt nicht am Mindestlohn, sondern eher an den Außenhandelsbilanzen. Es liegt daran, dass wir mit unseren niedrigen Lohnstückkosten alles niederkonkurrieren und damit den Euro in die Krise stürzen. Was man vor allem hinterfragen muss, ist, dass das sogenannte Jobwunder in Deutschland nicht zu einem Anstieg sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze geführt hat, sondern zu einer Fülle von Minijobs und Kleinstselbstständiger. Und Minijobs führen am Ende nur zu einer Minirente – damit ist Altersarmut programmiert.

In Bayern wird schon an diesem Sonntag gewählt. Die Linke ist dort relativ chancenlos. Funktioniert im Freistaat der Kapitalismus zu gut?

Kipping: Auch in Bayern gilt: Nichts ist unmöglich. Die letzte Umfrage sieht uns bei vier Prozent. Aber in der Tat herrscht in Bayern für uns eine besonders anspruchsvolle Situation. Das hat auch mit den Traditionen dort zu tun. Aber die Linke hat auch in Bayern einiges zu bieten. Der erfolgreiche Volksentscheid zur Abschaffung der Studiengebühren ist stark von den Linken unterstützt worden.

Ein Hauptargument der anderen Parteien gegen eine Zusammenarbeit mit der Linken ist deren außenpolitischer Kurs. Können Sie das nachvollziehen?

Kipping: In der Tat unterscheiden sich unsere außenpolitischen Vorstellungen von denen der anderen. Wir sind die Einzigen, die immer konsequent Nein zu Auslandseinsätzen gesagt haben und einen sofortigen Stopp von Rüstungsexporten wollen. Und wenn die anderen Parteien meinen, dass sei für sie nicht akzeptabel, dann sollen sie ihren Wählern auch sagen, dass sie sich offen halten wollen, Kriegseinsätzen auch zuzustimmen.

Glauben Sie, dass es die derzeitige Wendung im Syrien-Konflikt nach dem Giftgaseinsatz auch ohne militärische Drohgebärde der USA gegeben hätte?

Kipping: Ich hätte mir gewünscht, dass man sich bereits zu Beginn des Bürgerkrieges auf internationaler Ebene auf ein umfassendes Waffenembargo verständigt hätte. Das Gegenteil ist leider passiert. Auch deutsche Rüstungskonzerne haben noch Waffen nach Saudi-Arabien geliefert, die dann nach Syrien weitergeliefert wurden. Jede Waffe findet ihren Krieg. Und im Schatten der Ereignisse liefert die CIA jetzt sogar direkt Waffen an die Opposition. Das ist doch absurd.

Glauben Sie, dass ein Embargo einen Bürgerkrieg wieder eindämmen kann?

Kipping: Es wird auf keinen Fall besser, wenn man zusätzlich noch Bomben abwirft, weil dabei auch immer Unschuldige getroffen werden. Es muss die Bestrafung derjenigen geben, die den Giftgaseinsatz zu verantworten haben. Aber das muss auf rechtsstaatlichem Wege vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag erfolgen.

Und wie kriegt man die Verantwortlichen ohne Bomben nach Den Haag?

Kipping: Es mag Jahre dauern, bis Kriegsverbrecher vor Gericht kommen. Aber die Geduld zu haben, ist besser, als das Völkerrecht zu brechen und Unschuldige zu bombardieren. Wenn man den Menschen in Syrien helfen will, muss man zuallererst etwas für die Flüchtlinge tun. Der Uno-Flüchtlingsorganisation fehlen für die Hilfe vor Ort noch 1,8 Milliarden Euro. Bomben führen höchstens noch zu einer weiteren Radikalisierung.

Das hilft zwar den Flüchtlingen, beendet aber den Krieg noch nicht.

Kipping: Erstens muss eine diplomatische Lösung geben. Dazu müssen auch die unterschiedlichen Beteiligten wie Saudi-Arabien und Russland an einen Tisch. Zweitens muss es eine internationale Verständigung auf ein Waffenembargo geben. Ich finde es gut und richtig, dass jetzt alle an einem Tisch sitzen, was die Chemiewaffen betrifft. Aber wenn schon alle an einem Tisch sitzen, dann sollte auch über einen generellen Waffenstillstand verhandelt werden. Es ist ja gut, wenn die Menschen vor chemischen Waffen geschützt werden. Unendlich viel Leid wird aber auch durch konventionelle Waffen verursacht.