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"Nichtbürger" in Estland und Lettland Angst vor der russischen Minderheit

In Estland und Lettland werden Ex-Sowjetbürger systematisch benachteiligt, vor allem russischsprachige. Die "Nichtbürger" stehen unter Generalverdacht, die Diskriminierung trifft auch Neugeborene.
Riga (Lettland)

Riga (Lettland)

Foto: Riga2014/ dpa

Sie dürfen nicht wählen. Sie dürfen keine Beamten, Polizisten und Armeeoffiziere werden und auch viele andere Berufe im öffentlichen Dienst nicht ausüben. Bei der Rentenberechnung werden sie benachteiligt. Arbeiten im Ausland geht nur mit großem bürokratischen Aufwand und auch Reisen sind deutlich erschwert.

Was sich nach Apartheid anhört, ist in zwei EU-Mitgliedstaaten für etwa 330.000 Menschen Alltag - für die sogenannten Nichtbürger in Lettland und Estland: jene ehemaligen Sowjetbürger und ihre Kinder, die nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 einen Sonderstatus erhielten und später in einem aufwendigen Einbürgerungsverfahren "naturalisiert" werden sollten. Eigentlich sollte die Nichtbürger-Regelung nur vorübergehend gelten. Doch inzwischen hat sie sich zu einem Dauerprovisorium entwickelt - trotz wiederholter Mahnungen der EU, die Diskriminierung endlich zu beenden.

Lettlands Präsident Vejonis

Lettlands Präsident Vejonis

Foto: Frank Franklin Ii/ dpa

Lettlands konservativer Präsident Raimonds Vejonis, selbst Kind eines lettischen Vaters und einer russischen Mutter, legte nun vor kurzem eine Initiative vor, die als symbolischer Anfang vom Ende der Nichtbürger-Praxis gemeint war: Neugeborene Kinder von Nichtbürgern sollten ab 1. Juni nächsten Jahres automatisch die lettische Staatsbürgerschaft erhalten. Bisher ist das nur auf Antrag möglich. Doch Vejonis scheiterte - vorerst. Die Mehrheit der lettischen Abgeordneten stimmte vor zwei Wochen dagegen, den Gesetzesentwurf zur weiteren Debatte in die zuständigen parlamentarischen Kommissionen zu entsenden.

Dabei geht es nach Behördenschätzungen nur um eine geradezu lächerlich geringe Zahl von Fällen - um möglicherweise 50 bis 80 Kinder pro Jahr. 2016 etwa erhielten 52 Kinder den Nichtbürger-Status - in den anderen Fällen beantragten die Eltern für ihre Kinder die lettische Staatsbürgerschaft.

Vejonis appellierte deshalb an die Vernunft der national-konservativen Regierungskoalition: "Lettland ist seit 26 Jahren ein unabhängiger Staat, aber wir haben immer noch Angst vor Kindern ehemaliger sowjetischer Staatsbürger, die erst in 18 Jahren Wähler sein werden." Auch eine große Mehrheit der Letten - nach einer Umfrage vom Mai ganze 76 Prozent - unterstützt das Vorhaben des Präsidenten.

35 Prozent in Lettland, 28 Prozent in Estland

Doch die Rechtsaußen-Partei "Nationale Allianz" (VL-TB/LNNK), eine der drei Regierungsparteien, hatte bereits im Vorfeld mit einem Bruch der Koalition gedroht. Ihre Führung erneuerte stattdessen die radikale Forderung, den Unterricht in russischer Sprache abzuschaffen und Lettisch zur alleinigen Schulsprache zu erklären - gewissermaßen als Konter auf die Präsidialinitiative.

Nach dem negativen Votum zeigte sich Vejonis halb enttäuscht, halb kämpferisch: Wenn Lettland nicht in der Lage sei, Neugeborenen automatische seine Staatsbürgerschaft zu verleihen, könne es keine Fortschritte als starker und moderner Staat machen. Er sei aber überzeugt, so Vejonis, dass eine positive Entscheidung über seine Initiative nur "um einige Zeit" verschoben sei.

"Es geht um eine sehr positive Initiative, die auch ein Wegweiser für die Abschaffung des gesamten Nichtbürger-Komplexes wäre", sagt der russisch-lettische Publizist Igor Vatolin, der 2014 nach der Krim-Annexion Russlands die Nichtregierungorganisation "Bewegung proeuropäischer Russen in Lettland" gründete. "Putin nutzt die Existenz der Nichtbürger-Regelung für seine hybride antiwestliche Propaganda, deshalb sollte die lettische Politik es neben allen moralisch-ethischen Aspekten auch als Problem der nationalen Sicherheit betrachten, dieses System abzuschaffen."

In Lettland sind etwa 35 Prozent der zwei Millionen Einwohner Russen, Weißrussen oder Ukrainer und überwiegend russischsprachig, in Estland rund 28 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner. Die meisten von ihnen erhielten 1991 den Nichtbürgerstatus, weil sie zwischen 1940 und 1991 ins Land gekommen oder dort geboren waren - eine Reaktion auf die forcierte sowjetische Ansiedlungspolitik nach der Besetzung der baltischen Staaten 1940. Nur Litauen verzichtete auf eine Nichtbürger-Regelung - denn dort war der Anteil der Zugewanderten weitaus niedriger.

Die meisten Nichtbürger sind inzwischen "naturalisiert", jedoch gibt es in Lettland nach Angaben des Zentralen Statistikamts noch immer 223.000 von ihnen, in Estland 80.000. Darunter sind viele ältere Menschen oder solche, die den nicht ganz einfachen Einbürgerungstest mit Prüfungen in Sprache, Geschichts- und Verfassungskenntnissen nicht machen wollen oder können. Das hat bei einem bestimmten Anteil Betroffener auch pragmatische Gründe: Bei allen Nachteilen, die der Nichtbürger-Pass mit sich bringt, können deren Inhaber visafrei nach Russland einreisen - für viele, die dort Angehörige haben, ein Vorteil.

Nichtbürger-Status sorgt für "neue Entfremdung"

Dennoch geht es um ein grundsätzliches Problem - darum, inwieweit Estland und Lettland Menschen, die seit Jahrzehnten dort leben, als Dazugehörige betrachten. Bis heute stehen russischsprachige Menschen in den baltischen Ländern verbreitet unter dem Generalverdacht, ehemalige Besatzer zu sein, nicht genügend Loyalität gegenüber ihren neuen Heimatländern zu zeigen oder zu wenig Verständnis für die Tragödien der baltischen Nationen nach der Besetzung zu haben, vor allem für die massiven Deportationen von Esten, Letten und Litauern unter Stalin.

"Vor 25 Jahren war der Nichtbürger-Status eine notwendige Entscheidung, um die Situation in Estland und Lettland zu stabilisieren", sagt der lettische Politologe Ivars Ijabs und verweist auf das Beispiel anderer postsowjetischer Staaten, die bis heute unter ethnisch befeuerten separatistischen Konflikten leiden, etwa die Ukraine, die Republik Moldau oder Georgien. "Aber inzwischen ist der Nichtbürger-Status längst unsinnig und produziert nur immer neue Entfremdung."

Dass es in Lettland eine baldige Lösung gibt, glaubt Ijabs dennoch nicht: "Wenn unsere politische Elite es nicht einmal schafft, die Situation für 50 Kinder im Jahr zu regeln, dann wird es wohl auch keine Gesamtlösung geben."


Anmerkung der Redaktion: Wir haben im Teaser das Wort "russischstämmige" durch "russischsprachige" ersetzt und haben die Zahl der Nichtbürger in Lettland korrigiert.